Lukas 6,36
Mitfühlen, Mitleiden
gesendet in Radio Bremen 2 am Montag, den 18. Januar 2021
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Jesus sagt das. Seid barmherzig.
Ein Wort, das in unserer Alltagssprache kaum noch begegnet. Eine Sache, eine Lebensweise, auf die Menschen dennoch immer wieder hoffen. Herzlichkeit zu spüren tut nicht nur gut. Wir brauchen sie wie das tägliche Brot. Barmherzigkeit, die hat das Herz in der Mitte. Wer mit anderen so etwas erlebt, der sagt von ihnen: Die haben das Herz auf dem rechten Fleck! Die können herzlich sein. Und das tut gut. Mehr noch: damit tun mir diese Menschen gut.
Ich überlege, mit wem und wann ich das erfahre. Ich überlege weiter, für wen vielleicht ich selber so ein barmherzig-sein bedeute. Dabei fällt mir aber auch ein, wie oft ich andere enttäuschte. Und höre neu Jesu Worte: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
Das griechische Wort für barmherzig hier im Evangelium bedeutet so viel wie mitfühlen, mitleiden. Einen anderen Menschen wahrnehmen und ernstnehmen in seiner Not. Doch Mitleid tut nicht immer gut. Ich fand das Wort eines jüdischen Rabbi: „Besänftige nicht deinen Nächsten in der Stunde seines Zornes. … Bemühe dich nicht, ihn zu sehen in der Stunde seiner Erniedrigung.“ Gefühle lassen sich nicht einfach wegnehmen. Sie können sich sogar verstärken und nochmal schlimmer werden, wenn ich meine Not nicht nur selber spüre, sondern auch noch in den Augen der anderen sehe. Meine Not, mein angewiesen Sein, meine schlimme Lage. Dann drohe ich, damit identifiziert zu werden.
So ein Mitleid wollen die meisten Menschen nicht. Weil sie nicht festgeschrieben werden wollen in die Rolle der Leidenden. Und Barmherzigkeit, die schreibt doch nicht fest, die bringt – ganz anders – das Leben neu in Bewegung. Jesus selber weist unbarmherziges Mitleid ab. Den weinenden Frauen von Jerusalem, die ihn bedauern auf dem Kreuzweg, denen sagt er: Weint nicht über mich, sondern weint über euch und eure Kinder (Lk 23,28). Er wendet die Barmherzigkeit, die sie ihm mit ihrer Mit-Trauer erweisen wollen, zurück auf sie selber. Und ich frage mich: Wer bin denn ich in meinem Mitleid? Und bin ich darin den anderen wirklich barmherzig, oder weiche ich nur aus?
Barmherzig zu sein wie Gott – und nicht einfach so, wie es mir gerade in den Sinn kommt. Das will ich lernen.
Vorsehung erkennen heißt: barmherzig sein!
gesendet in Radio Bremen 2 am Dienstag, den 19. Januar 2021
Beim Spazierengehen kommt mir der Gedanke: Ich bin ein Mensch, der über die Erde geht. Ich bin damit nicht allein. In letzter Zeit sehe ich im Wald um die Ecke so viele Menschen wie noch nie. Auch die, die sonst mit dem Auto nach Süden fuhren und die, die den Flieger nach Malle nahmen. Nun fahren und fliegen sie nicht, wir gehen. Felder und Wälder fliegen nicht an uns vorüber, liegen nicht weit unter uns. Wir sind mitten drin, und sehen. Bleiben stehen. Sehen nicht nur von oben herab. Sehen nicht nur, was wir sofort nicht mehr sehen. Sehen es wirklich und sehen es ganz. Schauen. Ja,. auch ich bin einer, der über die Erde geht. Ich bin einer, der sieht, was da um ihn ist. Sehe ich wirklich? Mit welchem Blick sehe ich? Wie ein Mensch, der über die Erde geht. Nicht saust, nicht eilt, nicht fliegt, nicht fährt. Wie einer, der geht.
Der jüdische Gelehrte Abraham Joshua Heschel sagt einmal: „Der eindrucksvollste Gedanke, den das Judentum zu denken wagt, ist der, daß Freiheit, nicht Notwendigkeit die Quelle allen Seins ist. Das Universum wurde nicht `verursacht´, es wurde erschaffen.“
Also, was ich da beim Gehen sehe, müsste gar nicht sein. Ich sehe es, weil es gewollt ist. Und mich gibt es auch nur, weil ich gewollt bin. Weil die Freiheit Gottes es so wollte. „Ein Hauch von diesem Freisein“ (Heschel[1]) ist auf einmal da, unter den Menschen in Feld und Wald. Ich frage mich: Warum eigentlich sehe ich mich so oft eingezwängt in Notwendigkeiten, denen ich zu folgen hätte? Wer sagt mir das, und warum folge ich diesen Stimmen?
Beim Spazierengehen meiner Gedanken kommt mir die Idee: Ich bin ein Mensch, der über die Erde geht, weil Gott mir das schenkt. Hier zu sein, zu spüren, zu sehen, dabei zu sein. Dafür gibt es keine Notwendigkeit. Ich bin nicht aus Notwendigkeit. Ich komme aus Freiheit. Auch ich wurde nicht verursacht, ich wurde erschaffen. Ich komme nicht aus einer Ursache. Ich komme aus dem Geschenk der Freiheit. Gottes Gabe ist es, Gottes Gabe bin ich. Für mich, und für andere. Dabei muss ich nicht nützlich sein, sondern: barmherzig. Barmherzig wie der, dem ich alles verdanke.
[1] Abraham Joshua Heschel, Religion in einer freien Gesellschaft, in: Die ungesicherte Freiheit, Neukirchen-Vluyn 1985, S. 11
Fontanes Barmherzigkeit
gesendet in Radio Bremen 2 am Mittwoch, den 20. Januar 2021
Grete kennt Barmherzigkeit. Sie empfindet Barmherzigkeit, noch bevor sie zur Tat wird. Grete sagt: „Und ich kann kein Unrecht sehn. Und wenn ich´s seh, da gibt es mir einen Stich, hier gerad ins Herz, und ich möchte dann weinen und schrein.“[1] So Grete, wie sie Theodor Fontane beschreibt in seinem Roman Grete Minde. Unrecht tut ihr weh. Das Leiden anderer schmerzt sie. Sie hat eine menschliche Fähigkeit, die mitmenschlich macht: Die Fähigkeit, zu empfinden, was andere erleiden.
Genau das nennt man auch Barmherzigkeit: Im eigenen Herzen zu empfinden, was andere trifft. In der Bibel gibt es dafür ein Wort, das wird im Deutschen mit „jammern“ wiedergegeben. Jesus erkennt Menschen in ihrem Leid, und es jammert ihn. Das meint einen auch körperlichen Vorgang. Ich erschrecke über eine Not – und das Herz rutscht in die Hose. Denn vor Schreck weiten sich die Blutgefäße. Ein Mitempfinden, ganz körperlich.
Da gibt das Leid der anderen Jesus einen Stich. Nur dass er dann nicht weinen und schreien möchte, sondern er möchte der Gute Hirte werden für all die, die offensichtlich keinen Hirten für ihr Leben haben, der sie birgt und leitet, der ihnen Kraft und Halt und Richtung gibt. Er ruft sie zu sich: Kommt her… Kommt in Gottes Barmherzigkeit. Da findet ihr Halt und Kraft, ein neues Leben. Ein Leben nicht als Zufallsobjekte, sondern als Kinder Gottes.
So eine Einladung spricht sich natürlich herum. Vielleicht mehr noch spricht sich rum, wie Jesus Menschen gesund und heil machen kann, dieser Heiland. Dieser Retter, der Gottes Barmherzigkeit verkörpert. Darum laufen sie zu ihm und sprechen ihn an: Herr, erbarme dich!
Gottes Erbarmen bringt er. Und nicht den Hochmut des (Selbst-)Gerechten und angeblich Richtigen gegen die angeblich Falschen. So ein Hochmut macht den Menschen stolz und lässt ihn sich über andere erheben. „Ich hasse den Hochmut und weiß nur das eine, dass unser Allerbarmer für unsere Sünden gestorben ist und nicht für unsere Gerechtigkeit.“ Das sagt Grete Minde.[2] Und ich glaube, so ist es. Darum: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
[1] Theodor Fontane, Grete Minde, Reclam UTB 7603, Stuttgart 2019, S. 42
[2] aaO S. 85
Unbarmherzige Welt
gesendet in Radio Bremen 2 am Donnerstag, den 21. Januar 2021
„Unbarmherzig, unbarmherzig“ schreibt Etty Hillesum[1] am 20. Juli 1942 in ihr Tagebuch. „Diese Zeiten sind zu hart für so zerbrechliche Menschen wie mich.“ Und sie, die holländische Jüdin unter deutscher Besatzung, wird darunter zerbrechen. Aber sie wird dagegen halten – denn: „umso barmherziger müssen wir innerlich sein“, schreibt sie fast im selben Atemzug. Eine gute Woche zuvor beginnt ihr Sonntagmorgengebet so: „Es sind schlimme Zeiten, mein Gott. Heute Nacht geschah es zum erstenmal, dass ich mit brennenden Augen schlaflos im Dunkeln lag und viele Bilder menschlichen Leidens an mir vorbeizogen. Ich verspreche dir etwas, Gott, nur eine Kleinigkeit: ich will meine Sorgen um die Zukunft nicht als beschwerende Gewichte an den jeweiligen Tag hängen, aber dazu braucht man eine gewisse Übung. Jeder Tag ist für sich selbst genug. Ich will dir helfen, Gott, dass du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen. Ja, mein Gott, an den Umständen scheinst du auch nicht viel ändern zu können, sie gehören nun mal zu diesem Leben. Ich fordere keine Rechenschaft von dir, du wirst uns später zur Rechenschaft ziehen. Und mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Innern bis zum Letzten verteidigen müssen. Es gibt Leute, es gibt sie tatsächlich, die im letzten Augenblick ihre Staubsauger und ihr silbernes Besteck in Sicherheit bringen, statt dich zu bewahren, mein Gott. Und es gibt Menschen, die nur ihren Körper retten wollen, der ja doch nichts anderes mehr ist als eine Behausung für tausend Ängste und Verbitterung. Und sie sagen: Mich sollen sie nicht in ihre Klauen bekommen. Und sie vergessen, dass man in niemandes Klauen ist, wenn man in deinen Armen ist. Ich werde allmählich wieder ruhiger, mein Gott, durch dieses Gespräch mit dir.“ So betete Betty Hillesum. (11. Juli 1942) Und schrieb es in ihr Tagebuch. Und setzt die Kraft des Glaubens und Hoffens und darum auch die Liebe gegen die, die sie in ihre Klauen kriegen wollen. Aber wer in Gottes Armen ist, der ist in niemandes Klauen.
[1] Etty Hillesum, Das denkende Herz, Reinbek 1985, 19. Auflage 2006, S. 157 und weiter S. 149
Erbarmt euch!
gesendet in Radio Bremen 2 am Freitag, den 22. Januar 2021
Erbarmt euch! Hört sich fast an wie: Empört euch! So heißt eine kleine Schrift, die 2010 erschien, zuerst französisch: Indignez-vous! – und meint: auf der Würde zu bestehen. Stephane Hessel, der Autor, sagt: „Die `Dignität´, die im französischen Wort steckt, ist das Wichtige für mich: Man muss … seine Würde, eben seine Dignitas bewahren können, und wenn sie irgendwo nicht gut angenommen ist, dann muss man sich `indignieren´.“[1] Empört euch heißt dann: Besteht auf der Würde eures Lebens. Wo die Würde fehlt, da empört euch.[2]
Die Würde erkennen und ihre Verletzung nicht hinnehmen! Sich verantwortlich zeigen für Mitmenschlichkeit in einer Welt, die den Menschen oft nur noch als Erbringer von Leistungen und Funktionen ansieht, die dabei den Menschen nicht mehr erkennt – die ihn reduziert auf Verrechenbares.
Ich bin verantwortlich für Mitgeschöpflichkeit in einer Welt, die die Mitwelt oft nur noch als Gegensand zum eigenen kurzfristigen Nutzen ansieht – allen ökologischen Beteuerungen zum Trotz. Ich bin verantwortlich für Frieden in einer Welt, in der Menschen wieder zu Feinden werden, die man bekämpfen darf. Dagegen – empört euch, haltet an eurer und der Würde der anderen fest!
Hessel spricht dabei nicht nur von Würde und Verantwortung. Er fügt noch etwas an: Dem Drang, besitzen und beherrschen zu wollen, „stelle ich das Mitfühlen gegenüber.“[3] „Mitfühlen bedeutet, das eigene Fühlen mit dem des anderen zu verbinden, in Freud und Leid. … `Sympathie´ ist zu wenig, und `Mitleid´ wirkt leicht überheblich. Wer mitfühlt, will begleiten, helfen und die Situation verbessern.“[4]
Mit den anderen auf Mitfühlung zu gehen – das hat Jesus im Blick, wenn er auffordert: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Mitfühlend, gegenwärtig bereit an unsrer Seite. Einzustehen für den Menschen, zu dem er uns geschaffen hat. Und wie er zu uns – so wir zueinander.
[1] Stéphane Hessel, An die Empörten dieser Erde, Berlin 2012, Hg. Roland Merk, S. 24
[2] „Man kann sich empören, ohne Würde zu haben, aber man kann sich nur dann indignieren, wenn man die Würde als verletzt erachtet!“ Hessel/Merk, aaO S. 88
[3] Stéphane Hessel, Empörung- eine Bilanz, München 2015, S. 53
[4] Hessel, aaO S. 54
Mitfühlen, Mitleiden
gesendet in Radio Bremen 2 am Samstag, den 23. Januar 2021
Barmherzig sein mit Gott
Der große Philosoph Kant sagte einst: „Alles, was, außer dem guten Lebenswandel, der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes.“[1]
Ich halte mit einem zeitgenössischen Astrophysiker dagegen. Mit Harald Lesch, der sagt: „Also, mein Gottesbild … ist sehr persönlich. Ein persönlicher Gott, das ist ein Gott, mit dem ich etwas anfangen kann. Also ein Gott, der quasi-menschliche Eigenschaften hat, denn nur dann, wenn sich Gott verhält, wie der Mensch es kennt oder wenigstens im Prinzip kennen würde, kann er mit diesem Gott was anfangen.“[2] Der Mann, der sich beruflich mit dem Universum befasst, sagt: „Ich kann mit kosmischen Spiritualitäten, die irgendwo im Hintergrund des Alls herumwabern, wenig anfangen.“[3]
Also, bräuchte dann vielleicht gar Gott auch unsere, der Menschen Barmherzigkeit? In Paul Celans Gedicht Finsternisse, heißt es: „Herr. Bete, Herr, bete zu uns, wir sind nah.“ Und von dort ist es nur ein Gebet weit zur Bitte Jesu an seine Jünger in Gethsemane: „Wachet und betet mit mir.“ Sie aber schlafen ein, sie sind mit ihm unbarmherzig. Und es ist nur ein Bibelwort weiter zur Erinnerung Gottes an seine Menschen durch den Propheten: „Du hast mir Arbeit gemacht mit deinen Sünden.“[4] Einander nicht missachten, einander zumuten und zu tragen geben – auch so geht barmherzig sein.
Dann können auch Gott und Mensch einander barmherzig werden. Einander einfühlen. Einander tragen. Ohne Afterdienst, wie Kant irrig meinte. Weil Barmherzigsein immer demütig macht. Und weil das Gute keine Theorie ist, auch keine moralische, sondern immer etwas, das lebt. In einem Menschen. Zwischen Menschen. Und zwischen Mensch und Gott. So wie bei der Frau, die so oft in die Kirche kam und betete. Für sich betete. Bis ihr Gebet eines Tages erwachte und sie barmherzig wurde. Sie fragte: Gott, wie geht es eigentlich – dir? Denn Gott ist auch wer.[5]
[1] Zitiert nach: Clare Carlisle, Der Philosoph des Herzens, Das rastlose Leben des Sören Kierkegaard, Stuttgart 2020, S. 74
[2] Harald Lesch, Über Gott, den Urknall und den Anfang des Lebens, München 2019, ³2020, S. 10
[3] Ders., aaO S. 9
[4] Jesaja 43,24
[5] Dazu: Reinhard Körner, Gott ist auch wer!, Leipzig o.J. (2008 oder 2009)