10. Kalenderwoche 2024 – Okuli – 03. März 2024
Okuli (lat. Augen), der Name des dritten Sonntags in der Passionszeit kommt vom Psalm 25: „Meine Augen sehen stets auf den Herrn.“ (V. 15) Das geschieht in der Erwartung, dass Gott meine Füße aus dem Netz ziehen wird, in dem ich zu Fall komme und dass er mir zeigt, wie ich recht lebe vor ihm auf dieser Erde und auf ihn hin. Stets auf den Herrn sehen – da kommt mir gleich der alte Fahrlehrerspruch in den Sinn: „Sie fahren immer dahin, wo sie hinsehen.“ Das stimmt ja in einer weiteren Weise für unser ganzes Leben. Wo wir hinsehen und woran wir uns orientieren, das bestimmt dann auch unser Leben.
Der Predigttext aus 1. Petrus 1, 13-21 passt dazu voll und ganz! Durch alle Fragen, Wirren und Anfechtungen der irdischen Zeit, in der die Gemeinde Jesu lebt (wie in einer Fremde, V. 17; schon Jesus hatte in dieser Welt keinen „Ort“, Mt 8,20 und es vollendet sich abseits des menschlich dominierten Stadtlebens Hebräer 13,12), gilt es Jesus Christus und Gottes Wirken für uns durch ihn in den Blick zu nehmen. Und das, was wir dabei sehen, wird unser Leben bestimmen. Dabei geht es zunächst um einen Blickwechsel. Denn außerhalb unseres Glaubens oder in der Zeit, bevor wir uns am Glauben ausrichteten, da lebten wir ja nicht in einem Vakuum. Auch da sahen wir wohin und folgten dem, was wir wahrnahmen. Das war ein Leben, in dem es um uns selbst ging, um unsere Wünsche und Sehnsüchte, die sich erfüllen sollten. Das waren unsere ganz eigenen Begierden und das Verlangen nach dem, worin sich unser Leben erweisen und erfüllen sollte. Wir sahen dabei auf uns selbst. Nun aber gilt es, auf Gott zu sehen. Und wie Gott heilig ist, so sollen auch wir in all unserem Wandel heilig werden. Es geht also darum, sich bei Jesus und über ihn von Gott abzusehen, wie ein Leben geht, das ihm und seinem Tun entspricht. Denn so bringen wir ihm die angemessene Ehre und die für uns not-wenige Antwort auf das, was er uns gab: die Lebenshingabe Christi für uns und die Hoffnung, auf diesem Weg nun selber weiterzugehen und ans Ziel der Verheißung zu gelangen. Der Weg ist also längst noch nicht das Ziel, aber das Ziel, das schon mit Jesus Christus in unser Leben getreten ist, leuchtet, orientiert und kräftigt uns auf dem Weg. Auf Jesus sehen, und durch ihn auf Gott sehen, der uns leitet und führt.
Hier fällt zusammen, was bei uns oft auseinanderfällt: Glauben und Leben, oder: Dogmatik (Lehre) und Ethik. Das Sehen auf Gottes Tun in Jesus Christus soll uns dazu verhelfen, uns ungeteilt von ihm prägen zu lassen, ihm zu folgen, ungeteilt und ganz und gar (V. 13) auf ihn zu sehen und in unserem Leben und Tun dem zu entsprechen, was er an uns tut. Und das tut er nicht „geschäftsmäßig“, nicht so, dass er etwas einsetzt, das er zur Verfügung hat und mit dem er hantiert. Das Tun Jesu an uns, dass er uns in die Gottesgemeinschaft stellt und uns für ein anderes Leben gewinnt, sieht so aus, dass er selbst sich dabei drangibt. Er teilt unser Leben ganz und gar. So gibt er uns dann Teil an seinem Leben, das unser Leben verändert. In diesem veränderten Leben drehen wir uns nun nicht mehr nur um uns selbst. Vielmehr bekommen wir Gott und die Menschen ganz neu in den Blick. Und unser Handeln richtet sich neu daran aus. Dieses Tun Gottes in Jesus, das unser Leben verändert, das uns in der völligen Lebenshingabe Jesu zuteilwird, stellt uns in ein neues Licht. Es ist keine Belehrung, sondern Jesus setzt sich zu uns in Beziehung. Auf ihn zu sehen und sich von ihm prägen zu lassen, das ist gewahr werden, wer er ist und wer wir sind. Und dem gilt es im Leben zu entsprechen. Es geht also nicht um das Verfechten von Werten und um moralische Anstrengungen (oder moralische Aufrüstung, wie es früher mal hieß) – es geht darum, dass wir andere werden: Menschen, die nicht nur sich selbst sehen. Menschen, die auf den Herrn sehen – die sehen dann die Welt und die Menschen und auch sich selbst anders. Darum leben sie dann auch anders.
Lothar Zenetti sagte es einmal so: „Menschen, die aus der Hoffnung leben, sehen weiter. Menschen, die aus der Liebe leben, sehen tiefer. Menschen, die aus dem Glauben leben, sehen alles in einem anderen Licht.“
Sie sehen nicht Gold und Silber als das, worin es im Leben vor allem anderen geht. Auch nicht die Erfüllung aller eigenen Träume. Sie erkennen Güte, Treue und Hingabe Gottes als Grund und Ziel des Lebens. Und darum sollen die dann auch Inhalt des Lebens sein. Da will ich hinsehen. Denn worauf ich sehe, dahin laufe ich auch.
Erweiterung:
Es geht darum, woraus, wovon und wofür ich lebe. Daraus wird dann das Wie meines Lebens. Dabei unterscheidet der 1. Petrus-Brief ein Leben, das aus den Begierden des Menschen heraus gestaltet wird (darin sucht man sich selbst und die Erfüllung der eigenen Wünsche) von einer Lebensgestalt, die auf Gott hin lebt und ihn sucht. Dann sucht man seine Identität nicht in der Übereinstimmung mit sich selbst, mit den eigenen Werten und den überkommenen, die einen prägten (V. 18: der nichtige Wandel nach der Väter Weise), sondern man orientiert sich an der Heiligkeit Gottes, an seinem Wesen und Wirken, dem man entsprechen möchte. Und für ein solches Leben wurde man weder mit Silber und Gold erkauft, also sozusagen mit fremden Werten, die mit diesem neuen Leben eigentlich nichts zu tun haben, sondern durch den persönlichen Einsatz Jesu, konkret: durch seine Lebenshingabe. Sein Kreuz, seine Auferweckung und die Zukunft, die darin beschlossen liegt, stellt uns in die Hoffnung und lässt uns hoffnungsvoll leben. Die sich auf die Gnade und Treue Gottes richtende Hoffnung soll ungeteilt unser Leben bestimmen.
Das also heißt: Unter der Gnade leben, die unser Leben bestimmt und deren Vollendung wir erwarten. Unsere gegenwärtige Problematik dabei scheint mir zu sein: Wir sehen (vor allem in der akademisch geprägten Theologie) zu wenig die Treue und Gnade Gottes als eine Kraft und Energie, der wir vertrauen können. Vielmehr werten wir biblische und frühchristliche Glaubenstexte als jeweilige Interpretation der Erscheinung Jesu und des Evangeliums, die wir davon unterscheiden. Und als Urheber dieses Glaubens sehen wir dann nicht Gott (und sein Wirken im Christus Jesus), sondern die jeweiligen Zeugen. Die sind dann eigentlich keine Zeugen mehr, sondern selbstwirksame Interpreten. Für ihre Interpretationen verwenden sie dabei Versatzstücke und Vorstellungen aus Glaubenstraditionen, die die Wissenschaft ausfindig machen will. Aber Gott ist bei dem Geschäft sozusagen „raus“. (Man erklärt aus dem Alten heraus, darum gibt es auch nichts Neues; man erklärt aus dem menschlich Verfügbaren, darum gibt es auch kein Wirken Gottes.) Da Gott sich dem wissenschaftlichen Zugriff entzieht, kommt ihm in dem entsprechenden Geschehen dann auch keine Bedeutung mehr zu. So bleibt auch die bezeugte Hoffnung die der ersten Zeugen – wir könnten sie nur teilen, wenn wir ihren Glaubensbezug teilen. Genau der aber steht bei vielen von uns in Frage. Wir sagen nämlich häufig nicht: das ist Gottes Werk an ihnen, sondern wir sagen: die haben sich das so vorgestellt. Und wir haben heute andere Vorstellungen – oder was? Dazu gehört für viele heute, zu sagen, dass ihnen die Hoffnung, dass Gott das im Evangelium Begonnene auch vollenden wird, fremd ist. Aus dem Ereignis des Evangeliums, in dem die Neuschöpfung im Kommen des Gottesreiches ihren Anfang nimmt, wurde ein eher philosophisches Geschäft von Interpretationen und Meinungen über die Verfasstheit der Welt und der angemessenen Art menschlichen Lebens. Aus Jesus als Wort Gottes an und für uns werden dann menschlich-theologische Gedanken, und die können so oder anders sein. Aus der Hoffnung auf die alles umbrechende Erwartung des Reiches Gottes machen wir einen Gedanken, der sich als irrig erwiesen hätte (denn das Reich Gottes kam ja nicht, jedenfalls bis jetzt nicht, dafür aber die Kirche in all ihrer Fragwürdigkeit). So müssen wir angeblich alles, was uns an Glauben aus den frühen Überlieferungen und Zeugnissen begegnet, in unsere Wirklichkeit übersetzen, und die ist säkular, was heißt: es ist alles von Menschen geprägt und historischem Wandel unterworfen. Insofern „wackelt“ immer alles. Wir sind es, die mit den theologischen Gedanken „spielen“, aber Gott „ist raus“.
In der Gegenwart der Glaubenden bildet sich dann nicht mehr der Gekommene ab (Jesus, der einen inspiriert), dessen (Wieder-)Kommen als erwarteter Christus erhofft wird (man sagt: Woher soll denn der auch kommen?), nicht als einer, auf dessen Ankunft man hinlebt (Indiz: die dazu gehörige Kirchenjahreszeit im Advent hat sich auch innerkirchlich stark gewandelt in Vorweihnachtszeit), sondern nun geht es um die je eigenen Gedanken und Selbstverständnisse, die man von der ursprünglichen Glaubenskunde her durch diese oder jene Gedanken anregen lässt. Was aber meist bei diesen Anregungsversuchen außen vor bleibt, das ist die Wirksamkeit Gottes, das ist das Gegenübersein Gottes, das sich im Christus-Ereignis findet und das auf die Verwandlung der Welt in Gottes Reich aus ist (und auf die Verwandlung unseres Lebens in Gotteskindschaft). An diese Stelle tritt ein eher philosophisch orientiertes Selbstverstehen des Menschen, das sich auf allgemein Menschliches im Jesus-Geschehen bezieht, auf anthropologisch Innergeschichtliches (was zugleich das Maß des angeblich Möglichen oder Unmöglichen abgibt). Aber im Grunde wird weder unser Leben noch unsere Geschichte transzendiert, wir bleiben immer irgendwie nur uns selbst verhaftet, auf den geschilderten Wegen sind das zudem in erster Linie auch nur Denkweisen und Gedankenbewegungen, Interpretationen – aber wo ist das Leben selbst? Theologie wird ein reines Konstrukt menschlich-innerweltlicher Gedanken, und die gehen beim einen so und bei der anderen anders. Damit fällt auch das aus, was im Bezug zu Christus den Menschen in der Kirche eine gründende Gemeinsamkeit geben könnte. Nicht die eine Wurzel, aus der Verschiedenes aufwächst, steht im Blickpunkt, sondern unsere jeweilige Buntheit für sich selbst. Wo man aber nicht mehr miteinander über den je eigenen Rand des Lebens und Verstehens hinaus zeichnet, werden viele Denk- und Lebensfiguren nicht mehr möglich. Vorstellungen und Denkfiguren, die über uns selbst hinausweisen, fallen fort.
Letztlich fällt damit die Hoffnung weg, von der hier im 1. Petrusbrief die Rede ist, die er bezeugt und in die er uns Christenmenschen gestellt sieht. Wir verhandeln dann theologisch nicht mehr Gottes Ruf in diese Hoffnung, sondern wir sprechen von Werten, die wir setzen und von Spiritualitäten, die wir erleben. Die Gnade, die uns in der Offenbarung Jesu dargereicht wird, ist dann nicht nur vollends auf unsere irdischen Flaschen gezogen (wobei 1. Petrus uns ja über unsere derzeit gegebene irdische Wirklichkeit weit hinausblicken lässt), diese Hoffnung ist dann auch in unseren Flaschen eingesperrt. Denn alles sind ja eh nur unsere eigenen Gedanken.
Das Bemühen, das Jesus-Ereignis (das Leben und Sterben des Jesus von Nazareth) als Christus-Ereignis (als Wende der Welt in einer Aktion Gottes) nach dem Maß weltlich möglichen Verstehens zu erklären, zu begreifen und somit innerweltlich und nach menschlichem Maß zu verstehen und erklärbar aufzuweisen, hat letztlich am Ende das Christusereignis als unwirksam empfunden – Gott war und ist darin nicht nachweisbar (jedenfalls nicht mit den Mitteln des menschlichen Verstandes). Es liegt nun mal nicht im Maß unseres Begreifens und Verstehens, sondern die Bewegung geht anders herum: das Evangelium stellt uns in das Licht Gottes. Wir sollen das Geschehen des Evangeliums nicht in und nach unseren menschlichen Maßen nachvollziehen, also nicht selbst den Anfang des Glaubens setzen, sondern erkennen, dass Gott selber den Anfang setzt in seiner Heiligkeit.
Die unserem Textabschnitt vorgehende Perikope beginnt in 1,3: „Gelobt sei Gott und der Vater unseres Herrn Jesus, des Gesalbten, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit von Neuem gezeugt hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu, des Gesalbten, von den Toten“ (Übersetzung Martin Vahrenhorst). Dazu führt Vahrenhorst in seinem Kommentar aus: „In unserem Vers wird eleos“ (barmherzig) „durch `viel´ (polys) näher bestimmt. Für Leser, die mit dem biblischen Sprachgebrauch vertraut sind, könnte sich eine Verbindung zu den vielen Bibelstellen ergeben, an denen Gott selbst `vielbarmherzig´ (polyeleos) … genannt wird (Ex 34,6; Num 14,18; Neh 9,17; Ps 86,5.15; 103,8; 144,8; Joel 2,13; Jona 4,2) Gottes liebevolle, umsichtige und nachsichtige Treue, von der die genannten Stellen Zeugnis ablegen, gibt allem die Richtung. Sie ist gleichsam das Gleis, auf dem sich alles bewegt, was der Verfasser des 1Petr im Folgenden zu sagen hat.“ (S. 71) Die Frage ist ja, ob wir in vielen unserer Auslegungen nicht auf ein anderes Gleis geraten sind, das nicht mehr diese göttliche Treue akzentuiert, sondern uns selbst und wir mit dem, dem wir hier begegnen, machen und anfangen können nach unseren Maßen, nach den Möglichkeiten unserer Persönlichkeit und unserer Selbstverständnisse. Dann geht es nicht mehr um Gottes große Barmherzigkeit, sondern immer nur noch um unser eigenes Können, Vermögen und Auftreten.
Daraus aber gilt es auszutreten und einzutreten in das, was Gott getan hat und tut. Ein verstehen und begreifen Wollen ohne diesen Wandel bleibt auf halber Strecke stehen, so klug und gelehrt es auch erscheinen mag. Wir sollen nicht selbstbezüglich bleiben, wir sollen „heilig“ werden, gottgemäß. Heilig heißt: in allem auf Gott sehen und nicht den eigenen Begierden folgen, Gott und seinem Tun entsprechen wollen und nicht dem eigenen Verlangen und dem Erweis der eigenen Größe. Auch nicht unserer gedanklichen, intellektuellen und theologischen Größe.