„Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade.“
Johannes 1,16
Was für eine Verheißung: Leben zu dürfen aus einer Fülle! Gnade heißt da ja nichts anderes, als dass diese Fülle sich für uns und zu uns hin öffnet. Solche Fülle war und ist den meisten Menschen ein Fest. Ein Fest, das eben nicht Alltag ist. Alltag war und ist den meisten Menschen der Geschichte ein ganz anderes Erleben: Mangel, sein Brot essen im Schweiße seines Angesichts, Schmerzen erfahren, mit Einschränkungen und Grenzen des Lebens kämpfen. Die Fülle erscheint als das Außergewöhnliche.
Die sich zuwendende Fülle – sie schien außergewöhnlich in der Ökonomie; ich habe das in Volkswirtschaft damals gelernt, von der Knappheit der Güter. Angeblich gab es nur wenige freie Güter, die einem zur Verfügung standen wie das Wasser aus dem eigenen Brunnen oder die Luft. Fünfzig Jahre später weiß ich, dass auch diese Dinge nicht selbstverständlich und in bester Güte einfach so da sind. Auch die Preisfindung steht im Zusammenhang der Knappheit – je knapper umso teurer. Fülle entwertet auch, rein ökonomisch gesehen. Das weiß man ja auch menschlich: sich knapp und rar machen, das kann einen auch begehrter werden lassen. So hat die Fülle etwas Berauschendes, aber auch einen Effekt der Gewöhnung und Entwertung – weil man meint, sie ist doch einfach so da. Man verhält sich auch denen gegenüber, die einfach so da und nah sind (die einem also doch die Nächsten sind!), oft unbedachter und unverschämter als gegen andere, fernere Menschen. Je rarer umso scheinbar wertvoller (und dann rücksichtsvoller der Umgang): gilt das auch hier?!
Und dann nimmt man auch nicht mehr aus der Fülle, allzu oft vernachlässigt man sie. Kirche, Glaube, Evangelium – war doch auch einfach selbstverständlich da und reich und mächtig und musste man sich gar keinen Kopf darum machen. Eine Fülle in sich selbst, von Gottes und der Obrigkeiten Gnade. Eine Fülle, einfach so. Etwas, das mich doch nicht auch noch braucht. Eine Fülle, die sich irgendwie doch selbst genug sein müsste.
Johannes, der Evangelist, spricht zu Beginn seines Evangeliums von einer anderen Fülle. Überhaupt nicht selbstverständlich ist sie, sondern wie ein Licht, das in der Finsternis scheint. Fülle, die Gott mit seinem Sohn in die Welt bringt. Fülle im Mangel also. Im Mangel der Menschen, die meinen, mit ihnen beginne es und mit ihnen höre es auf. Menschen, die meinen, es liege alles an ihnen, sie müssten alles besorgen und sich um alles sorgen und die darum immer in Sorge sind. Menschen, die die Welt für ihre Welt halten und ihr ihren Stempel aufdrücken. Menschen, die von der Fülle Gottes und von seiner Sorge um sie und die Welt nichts ahnen. Kein „He´s got the whole world in his hands…“ Johannes beschreibt das so: „Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ (Joh 1,11) Sie hielten sich ja selbst nur für die sich eigenen. „Ich bin mir selbst nicht eigen“, sagt einmal Arno Pötzsch. Aber davon ahnen sie nichts, das wollen sie auch nicht. Sie bewältigen ihren Mangel. Wie wir in den wohlständigen Industriegesellschaften das bis heute tun – der Mangel und die Sorge um den Mangel wird mit materieller Fülle verdrängt. Doch weil man dazu stets wieder Neues braucht, kommt das Herz nie zur Ruhe. Im Gegenteil, immer schneller müssen wir laufen – um die Welt aus unseren Händen nicht zu verlieren, um Wert- und Geldschöpfung immer weiter voran zu treiben. So sind Menschen nun mal, die sich für Kinder des Mangels halten – und dem müssen sie immerzu entgehen. Und genau das ist der Zwang in unserem Leben, das ist unsere Armseligkeit, über die uns die Fülle der Waren hinwegtrösten soll. Und es doch nicht kann.
Dieser Armseligkeit stellt das Johannesevangelium Gottes Herrlichkeit gegenüber. Sie erscheint in Christus, im Sohn. Weil es in Christus um das Erscheinen der Herrlichkeit Gottes in unserer Armseligkeit und des Lichtes Gottes in unserer Finsternis geht, darum ist unser Bibelwort ein Wochenspruch in der Epiphanias-Zeit (2. Sonntag nach Epiphanias). Und das Wort ermuntert uns, nicht an unserer Sorge festzuhalten, sie wie unsere Finsternis und Armseligkeit zu verlassen und Christus aufzunehmen, der uns zu Gottes Kindern macht. Zu Kindern von Gottes Fülle und Barmherzigkeit. Zeichenhaft steht dafür die Hochzeit zu Kana, auf der Jesus aus Wasser Wein macht. Das Zeichen der Fülle und des Festes. Ein Fest, zu dem wir eingeladen sind. „Unser Leben sei ein Fest …Jesu Geist in unserer Mitte … Jesu Werk in unseren Händen“ (EG 557). Da sind wir wieder ganz nah bei der Aufforderung Jesu: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Barmherzige Fülle. Fülle, aus der wir nehmen dürfen. Und leben. Und Leben teilen. Beschenkt mit der Anmut und dem Wohlwollen Gottes werden, wie Gott ist. Mit einem Herzen nicht voller Sorge, sondern in der Gewissheit, gewollt und beschenkt zu sein und immer neu zu werden.